Jakute || ca. 1906
Es nahte gerade die Zeit, wo ich Kleiner in die Lehre
gegeben werden musste; um zu diesem Endzwecke in der Stadt zu wohnen, fehlte
uns dort ein Haus. Alles dieses zusammengenommen betrübte meine Mutter
ausserordentlich. Dessen ungeachtet liess nicht ab vom Wege des Handelns.
Unterdessen rechnet es mir nicht als Schuld an, wenn ich einige Worte über sie
sage.
Meine Mutter konnte nicht lesen und schreiben, von Verstand
war sie aber klug; die Vorzüglichkeit ihres Gedächtnissen war ohne Gleichen:
sie erinnerte sich Alles von ihrem vierten Lebensalter an; was irgend sie von
dieser Zeit an bis zur Vollendung ihres 70-sten Jahres gehört, hat sie niemals
vergessen; ohne nachzudenken sagte sie, auf welchen Tag jeder Feiertag
fiele; sie erzählte, ohne zu irren, welcher Gouverneur vor 100 Jahren, und wie
viele Jahre er gelebt hatte; wenn sie nur eben nachgedacht hatte, sagte sie
fehlerlos das Resultat einer Addition oder Division einer noch so grossen
Geldzahl.
Auf diese Weise kamen Leute, die irgend einen Umstand aus
alten früheren Zeiten vergessen hatten, zu ihr und schlichteten ihren Streit.
Sie kannte des Volkes Sagen, Märchen, Lieder Rätsel, Alles; weibliche
Näharbeiten der Kleider, die die Herren aus der alten Zeit trugen, entgingen
ihrer Hand und ihrer Kunst nicht.
Sie war sehr gottesfürchtig; bis zu ihrem Todestage hat sie
kein unwahres Wort gesprochen; auch nicht ein hungriger Mensch trat aus ihrem
Haus ohne sich gesättigt zu haben; da sie gegen arme Leute hülfreich war, pflegte
in ihrem Hause ein Stück Geldes (100 Rubel) niemals zehn Tage hindurch ganz zu
bleiben; zur Zeit, wo die grossen Festtage des Jahres kommen, bleib von ihren
mit Speisen angefüllten Vorrathskammern nur die Hälfte übrig.
Demzufolge galt sie für eine gutherzige Frau von reiner
Wahrheitsliebe. Wer ihr geborgt hatte, schämte sich der Schuld zu erwähnen; wer
sie durch irgend ein gutes Werk oder durch einen Dienst erfreut hatte, sah sich
an dem Tag für beglückt an.
Dieser Tod meines Vaters verursachte mir gleichfalls Sorgen.
Ich meine mit diesen Worten nicht allein die Trähnen des Kindes, die sogar das
Herz eines Grossen mit Blut übergiesst. Von eben diesem Tage begann jene
unglücksvolle Kette, die sich bis zu meinem jetzigen Lebensalter ununterbrochen
, jeden Tag und jedes Jahr zunehmend, hinzog.
Niemand stirbt mit dem Gestorbenen, der Lebende denkt an den
Lebenden. Nachdem meine Mutter die Gedanken der ersten Trauer verscheucht
hatte, brachte sie zuerst das Haus in Ordnung, hierauf vermehrte sie während
der fünf Jahre, die wir in Killäm wohnten, gehörig den Viehstand.
Dieses Leben, das wir in Killäm führten, entbehrte der Freude.
Die damalige Kälte erlaubte einem nicht hinauszugehen auf das frei gelegenen,
wüsste Land: während fünf Monaten gingen wir nirgends hin. Mich unterrichtete
der Grossvater im Lesen und Schreiben, am Abend las ich der Mutter die heilige
Schrift vor oder sie richtete meinen Sinn zur Liebe zu Gott, zur Verehrung des
Kaisers, zur Pflege der Armen, zum Mitleid, zur Nichtkränkung der Menschen ,
mit einem Wort, zu jener guten Handlungsweise, die uns die heilige Schrift als
Gesetz vorschreibt.
In Folge meiner unvergleichlichen Liebe zur Mutter und in
Folge meines angeborenen Charakters hörte ich die von ihr gesprochenen Worte,
ohne eines davon ausser Acht zu lassen.
Indem wir auf diese Weise lebten, wurden wir mit vielen Jakuten
bekannt. Diese Jakuten liebten mich wie ihr Kind, und auch ich liebte sie von
Herzen. Indem ich sie auf diese Weise liebte, erlernte ich vollkommen ihre
Sprache, machte mich mit ihrer Art und Weise zu leben und mit ihrer Denkungsart
vollkommen vertraut, hörte überaus gern ihre Märchen, Lieder Rätsel und alten
Sagen, ging mit Lust auf ihre Feste, Hochzeitsschmäuse und Volksversammlungen
und nahm Theil an den Spielen, die sie im Sommer feierten.
Quelle Text: -Otto Böhtling und Jakutien, Hartmann Kästner, Seite 14 - Leipziger Universitätsverlag
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● Über die Sprache der Jakuten
● Sacha-Jakutien
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